ZUM STADTPLAN
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Wie
der steile
Bug eines Schiffes, zweiseitig ausschwingend in die weitbordigen Linien
der Hügel, liegt der Felsen des Klausenberges über dem Tale.
Seine Kiele, seit Urzeiten fest im Grunde verankert, werden von den
schäumenden Wellen der Ruhr umspült.
Er ist kaum
ein
Berg, gemessen an Höhe und Umfang der umliegenden Bergketten, aber
er ist dennoch von zwingender Eindringlichkeit und vom hohen Bord
seiner Felskanten vermag der suchende Blick alles rundumher zu
erfassen:
die Stadt im Ruhrtale, den Fluß mit blitzenden Wellenzeichen, die
Seitentäler der Waldbäche, die Wälder selbst über
den
Bergen und die Landstraßen mit allem, was sich auf ihnen bewegt.
Ich aber
liebte
diesen Berg und liebe ihn heute noch. Ich saß auf den steilen
Klippen im Gezweig der Bäume, die aus der Tiefe ragten und in die
sausend der Wind stieß, daß sich die Kronen wie große
Segel
aufblähten. Der Klang der kleinen Glocke der uralten Bergkirche
hinter mir drang zuweilen an mein Ohr, und vor ihrem Stundenruf trieb
die Zeit dahin.
Und
nun sitze
ich wiederum auf hoher Klippe zwischen den sausenden Segeln der
Baumkronen. Es ist noch der gleiche Wind, der die Baumkronen bewegt. Er
allein ist
derselbe geblieben und trägt wie seit Jahrhunderten den
dünnen
Klang der Glocke vom Berge über die Stadt im Tale
Drunten
liegt
der weite Talkessel, Schwemmland von Henne und Ruhr. Waldgekrönte
Berge fassen ihn ein und erheben sich bis zu Höhen von 600 Metern.
Wie jeder Siedlungsraum mit seiner fruchttragenden Bodenschicht, seiner
Wetterlage, den Wasserverhältnissen als Landschaft seine Bewohner
formt,
so formt seinerseits der Mensch wiederum die Landschaft durch seine
Arbeit
an und in ihr. Aus den Wechselbeziehungen beider erwuchs auch die
Kultur
unserer heimatlichen Landschaft. Von der hohen Felsenwarte des
Klausenberges
aus überblicke ich die heimatliche Landschaft und erkenne, wie sie
die
Menschen, die hier seit Jahrtausenden werkten und schafften,
gestalteten
und immer noch gestalten. Jenseits der Niederung mit Fluß,
Landstraße
und Eisenbahn liegt sanft gewölbt wie der Rücken eines
waldborstigen Riesentieres der Hainberg. Dort über den Bergkamm
läuft die alte Grenzlinie zum Kloster
Galiläa. Die Grenze ist seit langem bedeutungslos, aber die
moosgrünen Steine stehen noch und versinken langsam in Kraut und
Gras, zwecklos geworden,
aber dennoch bezeichnend.
Die
Reste des
ehemaligen Klosters selbst, einst erbaut auf Hückelheimer
Flur,
sind von meinem Berge aus nicht sichtbar. Aber ich kenne dort ohnehin
jeden Schrittbreit Boden, und selbst die Inschrift über dem
Eingang ist mir noch bekannt. Unter riesigen, alten Bäumen dehnten
sich die verschilften Fischteiche des Klosters. Hier und dort, in Gras
und Nesseln lagen Grabsteine mit verblichenen Namen toter Nonnen
vergangener Jahrhunderte. Das alte, verwitterte Konventsgebäude
der Dominikanerinnen barg hinter dicken Mauern weitläufige, dunkle
Gänge und dämmerige Zellen, die nun von Landarbeitern bewohnt
wurden oder der Aufbewahrung von Ernte und Geräten dienten. Wir
Kinder
fürchteten uns wohl, die Gänge zu durchschreiten, denn manche
alte Spukgeschichte geisterte durch die Räum, und die Sagen von
unterirdischen
Gängen und Gewölben, in die zur Zeit der Auflösung des
Konvents
die letzten Nonnen die Schätze ihres Hauses geborgen haben
sollten,
erregten immer wieder die Phantasie der Bewohner und ihrer Besucher.
Gen
Osten
wendet sich der Blick über
den waldigen Gebirgszug des Arnsberger
Waldes, wo Schwarz- und
Rotwild ihre Fährten in den weichen Waldgrund drücken. Dort
drüben, wo zwischen waldigen Hintergrund und dem Ruhrtale heute
helle Siedlungshäuser im Galiläer Feld aus dem Grün der
Gärten leuchten, lag
einst das große Kriegsgefangenenlager des ersten Weltkrieges mit
seinen langen Barackenreihen, dem hohen, stacheldrahtbewehrten
Bretterzaun
rundum, überragt vom hohen Wachtturm. Gefangene aus vieler Herren
Länder wurden darin bewacht gehalten.
Nirgendwo
waren Wohnhäuser in dieser Landschaft. Die "Schwarze Fabrik" (die
Holzkohlefabrik Leisse) lag am äußersten Rande der damaligen
Stadt. Ich kann gerade in die lange Straße hineinsehen, die
damals vom Lager aus
zum fernen Franzosenfriedhof am Waldrande führte und über
welche
die 935 gestorbenen Gefangengen zur letzten Ruhe getragen wurden.
Unwillkürlich lausche ich in den sausenden Wind hinein nach den
klagenden fremden Gesängen der gefangenen Soldaten. Ich lausche
vergebens, der Wind hat das alles längst verweht und neue Laute,
dieses immerwährende Dröhnen, zusammengesetzt aus
zahlreichen, aber undeutbaren Einzellauten, das unsere Tage und
Nächte kennzeichnet, erfüllen die Luft. Zuweilen hebt sich
eine Fabriksirene, ein Lokomotivsignal, eine Autohupe überlauter
aus dem Getöse des Tages. Aus den Lagerbaracken entstanden die
ersten Siedlungsbauten eines neuen Stadtteils, der sich immer noch
ausdehnt und längst über die Ziegelei und die
Erlenbrüche davor bis an den
Waldrand am Schweinsbruch, jenem herrlichen, urtümlichen Gebiet
mit
seinen Wacholderbüschen, Wildäpfeln und Wetterfichten,
gewachsen ist.
Anno
1918
zogen große Teile der zurückflutenden deutschen Armee ins
Gefangenenlager ein, wo sie abgerüstet wurden. Auf dem weiten Hof
der Ziegelei türmte sich das Kriegsmaterial zu schwer zu
entwirrenden Haufen. Die Ruhrwiesen waren gedrängt voll Herden
mitgetriebenen Rindviehs, das in kurzer Zeit die karge Grasnarbe
zertrampelt hatte. Im Fluß trieben die verhungerten Tiere. Das
sind trübe Erinnerungen. Aber es sind Gesichte, die einst in
dieser Landschaft standen.
Meine
Blicke wenden sich nun den Gebäuden der Benediktinerabtei Königsmünster zu,
die sich über dem alten "Weingarten" erheben. Gott gebe, so denke
ich, daß die guten Mönche nicht auf den Einfall kommen, dort
wiederum einen Weinberg anzulegen, um mit dort gewachsenem Wein ihrer
Gäste zu bewirten!
Der Pulverturm vor der Abtei ist ein Stück
jenes alten Meschede, das zum größten Teil im großen
Feuer
1945 unterging. Er stand einst, wie es sich für einen richtigen
Pulverturm gehörte, weitab der Häuser und barg das Pulver des
Landwehrbataillons. Weiter im Hintergrund schwingt sich die große
Landstraße
in weitem Bogen, der schon die engen Windungen des weiteren Anstieges
zur Höhe des Stimmstamms und
Plackweges
ahnen läßt, in den Wald hinein.
Die
suchenden
Blicke wandern über die Hardt zur Hünenburg,
die ebenfalls
vor wenigen Jahrzehnten noch
außerhalb der Stadt lag. Nun ist sie
bereits von neuen Straßenzügen umschlungen, und moderne
Bauten drängen bis an ihre alten Wälle.
Im
Vordergrund liegt die Stadt, die alte Freiheit Meschede. Ich sehe in
den Stadtkern hinein. Der Turm der Stiftskirche,
1945 zerstört, zeigt wieder die vertraute Form, aber in den Reihen
der Dächer und Giebel fehlt manches Gebäude, das einst das
Gesicht der Stadt mitbestimmte und dem ausschauenden Auge altvertraut
und selbstverständlich war. Neue Straßenzüge liegen
zwischen neuen Giebeln und Dächern, die mir aber dennoch das Bild
jener Stadt zu vermitteln vermögen, die vor ein paar Jahrzehnten
Meschede war und trotz allem immer noch ist.
Und
darüber der Vogelsang! Auf breiten
Terrassen, die auf ihren tiefsten Ausläufern schon einen Saum
Häuser und Villen eines neuen Stadtteils tragen hebt sich die
Pyramide dieses
Berges südlich der Ruhr steil in die Wolken. Uralte, seltsame
Flurnamen
im Waldgefilde dieses Bergmassivs fanden eine eigene Deutung durch
berufene Forscher und weisen auf einen vorchristlichen Götterkult
im Waldgelände hin.
Sicherlich
besteht ein eigenes, den Beschauer beglückendes Zusammenspiel
zwischen dem hochragenden Bergmassiv des Vogelsanges und dem weit
niedrigeren Felsenbug des Klausenberges. Nicht nur deshalb, weil beide
Berge Kapellen haben,
die auf sehr alte Beziehungen schließen lassen, sondern auch in
ihrer landschaftsbestimmenden und beherrschenden eindringlichen Form,
die beiden zueigen ist, bis zu jenen nur gefühlsmäßig
zu erfassenden, aber schwer deutbaren Zusammenhängen, wie sie dem
behutsamen Beobachter einer Landschaft zuweilen an Dingen der
Schöpfung auffallen können.
So
wie
mein suchender Blick sich in den Hängen und Schluchten des
Vogelsanges verlieren kann, so vermag auch der Wanderer sich für
manche Stunden in der Einsamkeit seines Bergwaldes verlieren, ohne
einen Menschen zu
treffen. Eine Rast auf den breitgelagerten Klippen zum Ruhrtale hin
oder
über der gewaltigen Mulde des Löttmaringhauser Tales, mit
einem
Blick zur Ulmecke und zum Köpperkopf, sind Erlebnisse besonderer
Art.
Nun
ist es an
der Zeit, meinen Platz auf luftiger Bergeshöhe zu wechseln. Auch
der
Wind ist drängender geworden und bläst heftiger in die
wiegenden
Baumkronen. Ich steige über die Bergeshöhe an der
altersgrauen Klause vorbei, werfe einen
Blick auf
den kleinen Bergfriedhof, wo die Grafen von Westfalen ihre letzte
Ruhestätte
haben, und suche mir gen Westen einen neuen Standort.
Im
weiten Schwunge zieht sich von dort aus dem Tale herauf eine
stammweiße Birkenallee, der Prozessionsweg zu Fronleichnam, der
sich von der Klause aus über den Schloßplatz von Haus Laer durchs Ruhrtal wieder zur
Stadt wendet. Auf der Höhe des Langeloh, dessen
äußersten Ausläufer der Klausenberg bildet, entdeckte
man 1930, beim Bau eines Weges nach Berghausen einen fränkischen
Friedhof, der zwischen 400 und 800 n.Chr. angelegt worden war. Die
aufgedeckten Gräber enthielten 76 Baumsärge,
ein Pferdegrab und Schmuckstücke. Darüberhinaus sieht man auf
dem Lannenberg die flache Felsenkuppe des Galgensteines. Rechts davon
steigt durch den schmalen Paß zwischen Beil und Buchholz die
Landstraße nach Calle steil aufwärts, die vor Zeiten
über die Höhe
des Langeloh führte. Diese Straße an den Windhäusern
war
einst die beliebte Schlittenbahn der Mescheder Bürger, die
früher an schneereichen Wintersonntagen in großen Scharen
dorthin zu wandern pflegten.
Im
Tale
selbst, breit hingelagert mit Schloß, Kapelle, Gutsgebäuden
und
alten Alleen, liegt der Barockbau von
Haus
Laer. Ein ganz schmaler, künstlicher Ruhrarm, den ein Kind zu
überspringen vermag. leitet Wasser in die breite Gräfte des
Wasserschlosses, das imposant auf mächtigen grauen Mauern mit
hohem Turm vor der Krümmung des Flußtales sich erhebt.
Schwere Baumkronen wölben sich um den silbergrau schimmernden Bau.
Der Berg hinter den Wiesen des Schloßparkes trägt auf seiner
Höhe die Ruine eines Wartturmes, der im 18. Jahrhundert von
Fürstbischof Friedrich Wilhelm von Westphalen erbaut wurde.
Durch
eine
alte Schlacht und eine moderne Wehranlage aufgestaut, verbreitert sich
die
Ruhr zu einer spiegelnden Wasserfläche vor der Laerer Mühle.
Die Ruhrbrücke, über der die Straße nach Arnsberg den
Fluß überquert, schließt das Bild gegen die hohe
Steinbruchwand
des Hainberges ab, wo auf schmalem Raum die Eisenbahn um den Rande des
Berges schwingt, der Ferne zu, in der vor dem Blaugrün des
Arnsberger
Waldes, die ersten Häuser des Dorfes Stockhausen sich undeutlich
abheben.
Damit
schließt sich der Ring der Gesichte und Gedanken, Erinnerungen,
Einsichten und
Aussichten um die alte, grauschiefrige Stadt im Ruhrtale. Noch einmal
streifen die Blicke über die großen Linien der Landschaft,
gesäumt
von den Wäldern der Ferne und den hohen Bergkuppen der Nähe,
und
ich frage mich in Gedanken, ob dies alles nun immer noch das gleiche
Land
ist wie damals, als ich als Knabe auf meinem Luginsland saß und
ins
Leben hinausträumte?
Viel
Wasser rann inzwischen die Ruhr hinab, kehrte im Regen wieder zur
Quelle in
den Wäldern zurück in ewigem Kreislauf. Bäume fielen,
Häuser wurden abgerissen oder verbrannten. Menschen vergingen wie
das Gras am
Wege. Aber neue Bäume erheben ihre Wipfel, neue Häuser
entstanden
aus Schutt und Trümmern, neue Menschen wuchsen in sie hinein. Die
Stadt selbst wuchs weit über ihre alten Grenzen hinaus. Sie wuchs
nicht
überall, sie wurde auch konstruiert, und das ist ein Unterschied
gegen früher, als die Siedlungen harmonisch in die Landschaft
hineinstrebten.
Aber dieses alles vermochte nicht, das Gesicht der heroischen
Landschaft
zu verändern deren Bild von solchen Bergen wie dem hohen Vogelsang
oder dem Fels des Klausenberges, der Hardt und dem Hainberg geformt
wurden.
Aber dennoch ist etwas anders geworden, und ich sinne nach, was es sein
könnte?
Nun
fällt
es mir ein: Es ist lauter geworden! Damals, als ich zwischen den
sausenden
Segeln der Baumkronen saß und ins Land lauschte und lugte, war es
leiser!
Aber durch diese Stille sprachen auch die Stimmen der Vergangenheit
eindringlicher, und ihre Bilder offenbarten sich häufiger als
heutzutage, da Lärm, Hast und grelle Buntheit unseres Lebens die
Stille verscheuchen. Alt und jung waren durch diese Begegnungen inniger
verbunden, und das Neue stand nie wesenlos oder wurzellos in der alten,
gewachsenen Landschaft, in der allezeit die Gesichte der lebendigen
Vergangenheit gegenwärtig waren und - wie mir dieser Aufenthalt
auf meiner Bergwarte kündet - auch
heute immer noch sind. Sie warten nur auf Menschen, die ihnen lauschen
und
nachspüren wollen.
Gekürzte
Wiedergabe aus: Hannes Tuch, Heimatstadt im Kranz der Berge.
In: Göbel, Bernhard (Hrsg.)(1959) : 1000 Jahre Meschede;
Geschichte, Wirtschaft, Kultur. Drees Meschede
Bald
50 Jahre
nach dieser Beschreibung sitze ich nun auf hoher Klippe zwischen den
sausenden Segeln der Baumkronen. Auch ich kann heute schreiben, was
Hannes Tuch
1959 bemerkte: Es ist noch der gleiche Wind, der die Baumkronen bewegt.
Er allein ist derselbe geblieben und trägt wie seit Jahrhunderten
den dünnen Klang der Glocke vom Berge über die Stadt im Tale.
Und
es ist
noch lauter geworden. Gerade haben die Mönche ein Haus der Stille
eingeiht, wo die Menschen die Hektik und den Lärm des Alltags
vergessen können.
Ich
lese die
Geschichten aus der Vergangenheit. Meschede ist eine Stadt ohne
Gedächtnis. Das Bild der Stadt erinnert nur selten an längst
vergangene Zeiten. Das alte ist zerstört oder bringt sich nur
bescheiden in den Vordergrund.
Viel
hat sich
geändert in den letzten fünfzig Jahren. Meschede ist
gewachsen. Die Häuser haben sich an den Bergen emporgezogen. Nur
auf den windigen Höhen des Talkessels biegen sich Fichten und
Buchen im Wind.
Aber hier
oben auf dem Klausenberg scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Zwar
haben sich die Häuser auch hier bis zum Langeloh hinaufgewagt,
aber
noch wiegt sich das Getreide auf den Feldern im Wind. Es ist ein
heißer Tag im Frühsommer. Ein süßlicher Duft der
Felder umsäuselt die Nase. Hier oben dringen nur gedämpft die
Geräusche der Stadt an mein Ohr. Die Hitze, die Gerüche, die
Stille machen es leicht,
in der Vergangenheit zu versinken. Bilder und Vorstellungen erscheinen
vor dem träumenden Auge. Die Jahrhunderte laufen in Zeitraffer und
verschmelzen sich zu einer langen Geschichte.
Mein
Blick
wendet sich ab von der Stadt und streift in Richtung Westen. Hier hat
sich nicht viel geändert, die Landschaft hat ihr Gesicht gewahrt.
Das Bild
mit dem Schloss im Ruhrtal ist das gleiche wie es wohl schon die
Grafen von Westphalen vor 100 Jahren genießen konnten. Ich stelle
mir vor wie die Prozession, genau an einem warmen Tag wie heute,
über
die Birkenallee duch die Ländereien auf mich zukommt.
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